Fiedler, Peter. Das Matthäusevangelium. Theologischer Kommentar zum Neuen Testament, 1. Stuttgart: Kohlhammer, 2006. Pp. 440. ISBN 3-17-018792-9. €35.00.

1. Nach den Arbeiten zum Johannesevangelium und Philemon (beide Klaus Wengst) sowie zum Kolosserbrief (Ingrid Maisch) erschien nun als viertes Werk der noch jungen Reihe "Theologische Kommentare zum Neuen Testament" eine gewichtige Auslegung des Matthäusevangeliums. Einer der besonderen Schwerpunkten der Reihe besteht darin, die untersuchten neutestamentlichen Texte vor dem Hintergrund sozialgeschichtlicher Fragen, vor allem aber im Kontext des feministisch-theologischen Diskurses und des jüdisch-christlichen Dialogs zu untersuchen. Von daher ist es besonders interessant, dass gerade das Matthäusevangelium, das sicherlich einige derjenigen Passagen des Neuen Testaments enthält, die die schlimmste antijüdische Rezeptionsgeschichte erfuhren, von Peter Fiedler kommentiert wird, einem Exegeten, der zu den profiliertesten Vertretern des jüdisch-christlichen Dialogs im deutschen Sprachraum gehört.

2. Fiedler ordnet das Matthäusevangelium in das Syrien - womöglich Antiochien - der letzten beiden Jahrzehnte des 1. Jahrhunderts unserer Zeitrechnung ein. Von Beginn an unterstreicht Fiedler ganz deutlich den jüdischen Charakter des Textes - dieser zeige sich nicht nur daran, dass Mt etwa stärker als Mk das Gewicht der Sabbatheiligung betont oder an der Reinheitstora festhält, sondern gerade auch an der im Text zu findenden Polemik gegen die Pharisäer bei gleichzeitiger "vorbehaltlose[r] Anerkennung pharisäisch-rabbinischer Lehrautorität (23,2.3a)" (S. 20). Obwohl die matthäische Gemeinde zum großen Teil judenchristlich geprägt war, seien durchaus Anzeichen dafür zu erkennen, dass sich der Text auch an Menschen nichtjüdischer Herkunft richtete. Bereits hier zeigt sich sehr klar das Profil des vorliegenden Kommentars: Anders als manch anderer Exeget geht Fiedler nicht einfach davon aus, dass für die matthäische Gemeinde die gleichen Regeln galten wie für paulinische Gemeinden. Es sei durchaus denkbar, ja wahrscheinlich, dass man innerhalb der matthäischen Gemeinde auch von Nichtjuden den vollständigen Übertritt zum Judentum erwartete. Immerhin bedeute das Christusbekenntnis nicht nur eine Hinwendung zum Gott Israels, sondern auch die Annahme jüdischer Eschatologie. Gezielt deckt Fiedler so immer wieder die "heidenchristliche Perspektive" auf, aus der wir heute den Text meist lesen, ohne uns das bewusst zu machen.

3. Hoch interessant und scharf profiliert ist auch Fiedlers Analyse der Stellung der matthäischen Gemeinde innerhalb des Judentums. Vor allem macht der Autor ein Ende mit dem Bild, dass das Judentum der Zeit des Mt als mehr oder weniger fest organisierter und strukturierter Synagogenverband anzusehen sei. Genauso wenig könne zu dieser Zeit bereits von der Entstehung eines "formative" bzw. "normative Judaism" ausgegangen werden. Die Vielfältigkeit des Judentums sei keineswegs unmittelbar mit dem Ende des Jüdischen Kriegs erloschen - Fiedler spricht in diesem Zusammenhang von einer ganzen Bandbreite von "Judentümern". Innerhalb dieser Bandbreite sei es zu lebendiger und häufig scharfer Auseinandersetzung um den rechten jüdischen Weg gekommen - dabei habe auch die matthäische Gemeinde eine Rolle gespielt.

4. Ein ganzer Abschnitt der Einleitung ist der Frage nach dem Verhältnis des Mt zu den Pharisäern und Schriftgelehrten gewidmet. Mit der historisch unwahrscheinlichen Kombination der Gruppen "Pharisäer und Sadduzäer" wie auch "Hohepriester und Pharisäer" versuche der Evangelist, "die in seiner Zeit von (schriftgelehrten) Mitgliedern der pharisäischen Bewegung erfahrene Ablehnung des Bekenntnisses zu Jesus Christus mit der angeblichen Todfeindschaft der Mitglieder des Hohen Rats gegen Jesus zusammen zu bringen" (S. 25). Mt setze sich mit Schriftgelehrten pharisäischer Richtung auseinander, wodurch sich die immer wieder begegnende Kombination "Schriftgelehrte und Pharisäer" erkläre. Bei aller allzu massiven Polemik des Mt sei auch zu beachten, dass der Text weiterhin die pharisäische Lehrautorität anerkenne (Mt 23,2-3a), was sich aus der engen Verwandtschaft zwischen der Tora-Interpretation Jesu (und der matthäischen Gemeinschaft) einerseits und der pharisäischer Schriftgelehrter andererseits erkläre. Die Identität der matthäischen Gemeinde habe sich nicht über die Auslegung des Willens Gottes bestimmt, sondern am Bekenntnis zu Jesus von Nazaret als dem Christus. Mt 16,18-19 begründe zwar den petrinischen und damit jüdischen Charakter der Gemeinde, darüber hinaus aber keine weiter reichende petrinische Lehrautorität. Vielmehr werde die Einhaltung der Tora gefordert und im Hinblick auf konkrete Details der Lebenspraxis auf die Autorität der Schriftgelehrten und Pharisäer verwiesen. Das Matthäusevangelium formuliere auch keinen "christlichen" Exklusivitätsanspruch und ziehe keinen Trennungsstrich zwischen "christlichen Juden" und solchen, die sich nicht für das Christusbekenntnis entscheiden wollten. Fiedlers Gedanken sind in vielen Punkten provozierend - gerade dabei aber gelingt es, dem Leser die Augen für eine zumindest in Teilen verschüttete, faszinierende Leseweise des Textes zu öffnen.

5. Auch in seinen Antworten auf die Frage nach dem Antijudaismus des Matthäusevangeliums erweist sich Fiedler aus herausfordernder Denker. Die immer wieder anzutreffende Argumentation, ein durch einen jüdischen Autor verfasster Text könne nicht antijüdisch sein, weist er ab: "Grundsätzlich ist ein Autor oder eine Autorin dadurch, dass er oder sie jüdisch ist, nicht davor gefeit, sich antijüdisch zu äußern. Paulus liefert das krasseste - aber nicht sein einziges! - Beispiel dafür in 1Thess 2,14-16. Mt hat sich ähnlich zu Behauptungen hinreißen lassen, die durchaus das Prädikat "antijüdisch" verdienen" (S. 33). Damit hat Fiedler sicherlich im Grundsatz Recht - trotzdem besteht m.E. doch ein qualitativer Unterschied zwischen Äußerungen eines Juden, die sich gegen bestimmte jüdische Gruppierungen richten, und vergleichbaren Aussagen eines Nichtjuden. Das Problem, dass das Evangelium des christlichen Juden Mt zu einem der entscheidenden Texte wurde, mit dem die Heidenkirche argumentierte, wird aber auch von Fiedler erkannt. Gerade dieser neue Kontext habe zu verheerenden Fehldeutungen geführt. Dies sei aber nicht allein auf den Autor zurückzuführen:

Denn die Bestreitung, dass der von Gott gestiftete und garantierte Heilsstatus des jüdischen Volkes fort besteht, lag außerhalb seines Vorstellungsvermögens. Die Bibel, an der er sich als Jude hielt, weiß zwar vom Gericht Gottes für die Vergehen seines Volkes. Sei weiß aber auch von der unverbrüchlichen Treue Gottes, der es immer geliebt hat und liebt . . . . Hier kommt die Heidenkirche nicht daran vorbei, von Grund auf umzulernen - und das erfordert von ihrer Theologie und Verkündigung, Mt und seine Gemeinschaft . . . als durch und durch jüdisch geprägt wahr zu nehmen [S. 34].
Vor diesem Hintergrund formuliert Fiedler weit reichende und tief greifende Gedanken zur Rolle des Matthäusevangeliums im heutigen Dialog zwischen Judentum und Christentum. Er berührt dabei vor allem Fragen der Ethik und der Ekklesiologie.

6. Fiedler gelingen hoch interessante und provozierende Auslegungen des so bekannt scheinenden Textes Matthäusevangelium, dessen Fremdheit und Profil in dieser Interpretation aufs Neue sichtbar wird. Der eigentliche Kommentarteil bietet die jeweiligen Textpassagen grau unterlegt in deutscher Übersetzung, dazu ausführliche Exegesen zumindest teilweise nach dem Vers-für-Vers-Prinzip sowie eine große Anzahl von Exkursen, die jeweils typographisch hervorgehoben sind. Für die Leserinnen und Leser der vorliegenden Zeitschrift mag interessant sein, dass textkritische und textgeschichtliche Fragestellungen, soweit ich sehe, leider keine Rolle spielen. Der Band wird durch ein ausführliches Stellenregister gut erschlossen.

7. Peter Fiedler hat einen bemerkenswerten Kommentar zum Matthäusevangelium vorgelegt. Wie sehr es hier gelingt, das Matthäusevangelium konsequent als jüdischen Text auszulegen, wurde mehrfach betont. Der Text steht aber nicht nur auf hohem wissenschaftlichem Niveau, er ist auch einem breiteren Kreis von Studierenden, Priestern, Pastoren oder Lehrern zu empfehlen.

Tobias Nicklas
Radboud Universiteit Nijmegen

© TC: A Journal of Biblical Textual Criticism, 2006.